Vom Schmerz und der Erkenntnis des Loslassens

Vom Schmerz und der Erkenntnis des Loslassens

Eines Abends vor ein paar Jahren kam ich von einem internationalen Meeting in Madrid geschafft nach Hause. Und dann stand da plötzlich mein nicht mehr ganz so kleiner Sohn traurig in der Küche vor mir und sagte nur: „Ich wollte mit Dir am Wochenende wandern gehen, aber Du hast sicher wie immer keine Zeit für mich, oder?“. Er wartete die Antwort erst gar nicht ab, drehte sich achselzuckend um und schlurfte in sein Zimmer.

Er sagte das ohne Vorwurf in der Stimme. Fast nebensächlich. Mehr eine Feststellung als Frage. Aber da war diese unendliche Traurigkeit, dieser hoffnungslose, resignierte Ausdruck in Mimik und Haltung, den er mir hier offenbarte.

Ich war nur sprachlos und fühlte mich schuldig.

Was sollte ich auch sagen? Tatsächlich verbrachte ich mit meiner Arbeit deutlich mehr Zeit als mit der Familie. Eigentlich gab es kein Familienleben. Meine Frau und meine Kinder zeigten unendliche Geduld, ließen mich tun, was ich tun wollte. Und ich redete mir ein, alles wäre in Ordnung, weil sich ja keiner beschwert.

In der folgenden sehr unruhigen und schlaflosen Nacht wurde ich mir der vielen kleinen Hilferufe bewusst, die ich von meinen Kindern und meiner Frau in den letzten Monaten bekommen hatte.

Und ich begann, mich so unendlich schuldig zu fühlen: ich vernachlässigte meine Familie, würde wertvolle Zeit gefüllt mit Erlebnissen und Erinnerungen, mit emotionaler Verbundenheit und Liebe einfach verpassen. Und bekam wirklich schreckliche Panik, vielleicht meine Familie durch mein Verhalten zu verlieren.

Ich spürte, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Und wollte.

Aber mit Entscheidungen ist das so eine Sache, nicht?

Ich steckte in einer kleinen persönlichen, widerlichen Hölle, gefüllt mit Schuld, Schmerz, Vorwürfen, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Angst vor Enttäuschung, vor Verlust von Anerkennung, vor dem Loslassen: was kommt danach? Wenn ich Verantwortung abgebe: werde ich dann überhaupt noch geachtet, gemocht? Ich hasste es wirklich „Nein“ zu sagen. Ich wollte keinen Menschen enttäuschen. Ich scheute, Verantwortung abzugeben, weil ich glaubte, dass diese dann nicht mehr richtig erfüllt werden würde. Ich hatte furchtbar Angst, Chancen zu vergeigen.

Ich hatte aber andererseits auch so große Furcht davor, den Anschluss an meine Familie zu verpassen und irgendwann zu bereuen: ach, was weißt Du denn schon von uns, Papa, du warst ja nie da…

Aber in mir wurde etwas angestoßen, was nicht mehr umkehrbar war – trotz der Angst vor der Veränderung.

Was also tun?

Ich beschloss nach einer langen Zeit der inneren Qual kleine Schritte zu gehen. Langsam aber sicher mich von eingefahrenen Verhaltensmustern und Menschen, von hart erarbeiteten Privilegien und Statussymbolen zu trennen. Ich trennte mich in Liebe und wohlwollend von Posten und verantwortungsvollen Aufgaben. Ich ließ also los und konzentrierte mich auf das Wesentliche in meinem Leben.

Und wissen Sie, was passierte?

Genau!

Keiner nahm mir das übel. Keiner drehte mir den Rücken zu oder zeigte für meine Handlung kein Verständnis. Die Enttäuschung war bei einigen Betroffenen spürbar, aber sie bemühten sich, mir für meine Entscheidung Verständnis zu zeigen. Ich wurde immer noch von den Leuten, die mir wichtig waren, geschätzt.

Und mir wurde klar, dass ich auf die Anerkennung, die nur mit meiner Leistung verknüpft war - und nicht mit mir als Person - getrost verzichten konnte. Ganz zu schweigen von den Menschen dahinter.

Meine Zeit und meine Gefühle, die sich nun veränderten, füllten sich mit neuen Dingen, mit Familie und Freunden, und anderen, schönen Erlebnissen. Mein Körper begann sich zu regenerieren. Ich hörte auf mich und meine Bedürfnisse. Bis heute: ich bereue keinen Tag, keine Minute, mein altes Leben losgelassen und Veränderung willkommen geheißen zu haben

Ich darf nun meine Erfahrung weitergeben und helfen

Das Schönste dabei: heute kann ich als Coach genau diese Erkenntnisse, die ich in diesem Prozess lernte, nutzen und weitergeben. Ich kann helfen, durch diese Zeit der inneren Neuorientierung begleiten und mich mit meinen Coachees daran zu erfreuen. Ja, es erfordert viel Mut, es ist harte Arbeit und manchmal sehr schmerzhaft. Es kann lange dauern oder Probleme geben. Und ich habe größten Respekt vor dieser Entscheidung, die aus Verantwortungsbewusstsein geboren ist und den Menschen die Selbstbestimmtheit und Würde zurückgibt, die sie sich selber so lange verwehren.

Und vielleicht ist dieser Schritt auch für Sie der Richtige.

Ach ja: an diesem Wochenende war ich mit meinem Sohn tatsächlich in den Bergen… 

Karl Michael Schölz

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